Nachruf – Gunnar Heinsohn

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Der Universalgelehrte der Sozialwissenschaften

„Herzlich willkommen in meinem Sterbezimmer.“ Mit dieser, morbiden Humor und norddeutschen Charme verbindenden Begrüßung läutete Gunnar Heinsohn unser erstmaliges persönliches Aufeinandertreffen am 30. April 2011 ein. An jenem Samstag hatte ich mich nach Bremen aufgemacht, im Schlepptau einen Koffer gefüllt mit allen Heinsohn-Publikationen (*), die mein Bücherregal seinerzeit hergab. Den gesamten Nachmittag, über vier Stunden, nahm er sich schließlich Zeit, um mit mir sein umfang- wie abwechslungsreiches Oeuvre anlässlich des 40. Publikationsjubiläums kursorisch zu streifen.

Sein akademisches „Sterbezimmer“ war übrigens eine geschätzte 15 Quadratmeter große, spartanisch eingerichtete Bürofläche im Erdgeschoss eines Funktionsbaus in der Peripherie des Campus, in welche die Universität Bremen einen ihrer luzidesten, aber eben auch unorthodoxesten Denker verfrachtet hatte; Büromöbel, Rechner und Nadeldrucker inklusive. Nichtsdestotrotz darf sich die Hansestadt rühmen, im Namen jener geldtheoretischen Konzeption geführt zu werden, die Heinsohn gemeinsam mit seinem langjährigen akademischen Konterpart und Freund Otto Steiger ab Mitte der 1970er-Jahren auszuarbeiten begann.

Unter den zahlreichen Veröffentlichungen aus der Feder des Professorenduos ragt als ökonomisches Opus Magnum „Eigentum, Zins und Geld: Ungelöste Rätsel der Wirtschaftswissenschaft“ (*) heraus, welches inklusive seiner Folgebände die sogenannte Bremer Schule der Eigentumsökonomik endgültig im akademischen Diskurs verankerte. Die 1996 veröffentlichte wissenschaftliche Publikation, zu deren Lektüre ich selbst drei Anläufe benötigt habe, untergräbt überzeugend die geldtheoretischen Fundamente der klassischen Ökonomie, was übrigens die neomarxistische Wirtschaftstheorie genauso wie die Österreichische Schule der Nationalökonomie einschließt.

Gunnar Heinsohn (1943 bis 2023)
„Je näher es ans Sterben geht, desto unsterblicher müssen doch die Gedanken werden.“

Seit dem Jahr 2000 wird die Eigentumsökonomik vom Geldmuseum der Deutschen Bundesbank als eine der fünf wichtigsten existierenden Gelderklärungen gewürdigt und das, obgleich beide Autoren zu den Fundamentalkritikern des Eurosystems der ersten Stunde zählen, deren Kassandrarufe nach wie vor zu lesen lohnt. Dem außerakademischen Publikum hat indes der Historiker und Wirtschaftsjournalist Paul C. Martin, dessen Nachruf ich vor knapp zwei Jahren an dieser Stelle veröffentlichen durfte, das Heinsohn-Steiger-Modell inklusive einiger eigener Impulse als Debitismus nahegebracht.

Gleichwohl war die Ökonomie nur eines von zahlreichen intellektuellen Steckenpferden Heinsohns. Nach seinem akademischen Auftakt in der Kleinkindpädagogik und den Veröffentlichungen zu den negativen Auswirkungen früher Fremdbetreuung, die auch nach einem halben Jahrhundert nicht an Aktualität eingebüßt haben, waren es vor allem die teilweise fantastisch anmutenden Schriften des Arztes und Neokatastrophisten Immanuel Velikovsky, welche das Feld seines Forscherlebens abstecken sollten: Religionsentwicklung, Demografie, Antisemitismus- und Genozidforschung sowie Chronologiekritik.

Die auf den ersten Blick zusammenhangslose thematische Spreizung erwies sich dabei in einem akademischen Umfeld, in dem Spezialisten über immer weniger immer mehr wissen, als logische Folge seines erkenntnistheoretischen Strebens. Heinsohn war einer der ganz wenigen und vermutlich letzten Gelehrten des hiesigen Universitätsbetriebs, dessen herausragende Stärke im fachübergreifenden methodischen Ansatz lag, wie er sich beispielsweise in dem von ihm selbst so bezeichneten Verfahren der „parallelen Rätselakkumulation“ fruchtbar manifestiert hat.

Bemerkenswert ist angesichts der an potenziellen Fettnäpfchen reichen Auswahl, dass Heinsohn Zeit seines Berufslebens der persönlichen Neugierde folgend sowie mit intellektueller Strenge das akademische Skalpell geschwungen und damit Wissenschaft im eigentlichen Sinn des Wortes praktiziert hat: Unbestechlich, alleine der Erkenntnis verpflichtet und zudem gänzlich uneitel.

Dass diese Haltung ihm nicht nur Freunde bescheren würde, war ihm vermutlich selbst klar. Spätestens nachdem ihm im Jahr 2003 mit dem flüssig lesbaren Sachbuch „Söhne und Weltmacht: Terror im Aufstieg und Fall der Nationen“ (*) ein veritabler Bestseller zur demografischen Entwicklung und Bevölkerungspolitik gelang, wurde er von den ebenso einschlägigen wie öffentlichkeitswirksamen Kreisen mit dem Prädikat „umstritten“ geadelt und als Volksfeind abgestempelt.

Ob ihm das nicht seine Forschung verleiden würde, wollte ich bei meinem Besuch wissen. Er hätte keine Zeit, sich um Ächtungen zu kümmern und tröste sich damit, dass körperliche Übergriffigkeiten bisher ausgeblieben seinen und er auch weiterhin pünktlich bezahlt werde, lautete seine lakonische Antwort. Dass Heinsohn sich schließlich nicht nur in Bremen, sondern am Ende auch in Deutschland nicht sonderlich heimisch gefühlt haben dürfte, dazu haben neben obigem Umstand vermutlich auch Hunderte anonymer Schmäh- und Drohbriefe jeglicher politisch-extremistischer Couleur beigetragen, von denen ich eine negative Bestenauslese einschließlich eines tagesaktuellen Pamphlets bestaunen durfte.

Mit Ausnahme der Eigentumsökonomik trifft auch auf Heinsohn die Redensart zu, wonach der Prophet im eigenen Land nur wenig zählt. Nach dem Tod Steigers und seiner Emeritierung im Jahr 2009 zog es ihn endgültig nach Danzig beziehungsweise Gdynia. Hier wurde er am 21. November 1943 geboren. Von hier war sein Vater, der Korvettenkapitän Heinrich Heinsohn, ein gutes halbes Jahr zuvor ein letztes Mal als Kommandant des U-Bootes U 438 ausgelaufen, welches ihm einschließlich seiner Mannschaft auf dem Grund des Nordatlantiks zum stählernen Grab wurde.

Vom Bildungsbetrieb verabschieden musste sich Heinsohn seinem Standortwechsel zum Trotz übrigens nicht. Ausgerechnet jenes Thema, für das er hierzulande am meisten verfemt wurde, fand am Nato Defense Collage in Rom bereitwillig Gehör, wo er zwischen 2011 und 2020 Kriegsdemografie – Militärs schätzen klare Ansagen – lehrte. Das mag auch damit zusammenhängen, dass Heinsohn auf Basis der in „Söhne und Weltmacht“ ausformulierten Youth-Bulge-Theorie bereits frühzeitig ein Scheitern der militärischen Interventionen in Afghanistan und im Irak prognostizierte.

Der Lehrauftrag in Italien hatte für ihn zudem den Vorteil, seinem letzten großen Lebensthema, einer Neuordnung der Chronologie des ersten Jahrtausends, archäologisch vor Ort auf den Grund gehen zu können. Dass in der hiesigen akademischen Landschaft damit kein Blumentopf zu gewinnen ist, war ihm freilich bewusst. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat Heinsohn auf eine Veröffentlichung seiner Ergebnisse in Buchform verzichtet. Seine 400 Seiten starke Schrift „Wie viele Jahre hat das erste Jahrtausend?“ erschien als Privatdruck beziehungsweise in einer elektronischen Fassung.

Apropos Veröffentlichungen. Welche seiner eigenen Publikationen sein Lieblingsbuch sei, lautete bei unserem Treffen in Bremen meine letzte Frage, derweil ich fast schon im Gehen begriffene war. Bemerkenswerterweise nannte er ohne zu zögern und für seine Verhältnisse freudestrahlend jenen Titel aus seiner reichhaltigen Publikationsliste, der vermutlich am wenigsten öffentliche Rezeption erfuhr: „Die Erschaffung der Götter. Das Opfer als Ursprung der Religion“ (*). Eine würdige Wahl.

Am 16. Februar 2023 starb Gunnar Heinsohn in Danzig nach kurzer Krankheit im Kreis seiner Familie. 15 Jahre, einen Monat und einen Tag nach Otto Steiger ist er diesem nunmehr auf dem Weg, das letzte Mysterium zu ergründen, gefolgt. Bleibt zu hoffen, dass das Jenseits für die beiden noch die eine oder andere Rätselakkumulation bereithält, die es zu lösen gilt. Und wer weiß, eventuell gesellt sich Paul C. Martin hinzu, um die zu Lebzeiten unausgelotet gebliebenen Punkte des Debitismus auszudiskutieren. So oder so, möge das Triumvirat der Eigentumsökonomik nun seinen Frieden finden.

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    Eine Antwort auf „Nachruf – Gunnar Heinsohn“

    1. Danke Luis für diesen in deiner intelligenten Art formulierten Nachruf. Ich kannte Prof. Heinsohn leider nur aus Podcasts, aber sein enormes Wissen hat mich sehr beeindruckt. Toll, dass du Gelegenheit hattest, ihn persönlich kennengelernt zu haben. Schade, dass wir ihn nicht mehr hören werden.

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