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Von Gary Antonacci, 216 Seiten, 40,52 Euro, McGraw-Hill Education 2014
Im Mai dieses Jahres habe ich ein Geldgespräch mit meinem Podcast-Kollegen Robert Beck geführt. Der ausgewiesene Asien-Kenner ist bekennender Momentum-Investor und stützt sich bei seiner Anlagestrategie ebenso wie bei seinen Informationsangeboten auf die englischsprachigen Grundlagentexte des geistigen Vaters derselben in Person des US-amerikanischen Investmentmanagers Gary Antonacci.
Die Essenz dessen theoretischer Forschung wie praktischer Erfahrung floss in das vorliegende Grundlagenwerk „Dual Momentum Investing“. Nicht nur aufgrund der durchweg interessanten Ausführungen meines Interviewpartners hat mich die Lektüre der Publikation gereizt. So weckte der Untertitel Erinnerungen an das an anderer Stelle besprochene Buch des niederländischen Fondsmanagers Pim van Vliet, welches thematisch in eine ähnliche Kerbe schlägt.
Wer ist der Autor?
Dem Erststudium Antonaccis folgend schlug sein Herz zumindest in jungen Jahren für das Kino. Erst nach dem Studium der Filmwissenschaften, welches er zwischen 1971 und 1974 an der University of Southern California mit dem Bachelor abschloss, verschlug es ihn zunächst nach Berkeley und dann nach Harvard, wo er schließlich im Jahr 1978 mit einem Master in Finanzen und Investments graduierte.
Seither war er nahezu durchgängig als Portfolio Berater und Manager für unterschiedliche institutionelle Investoren und Family Offices tätig. Parallel dazu widmete er sich der Erforschung und Umsetzung verschiedener innovativer Anlagestrategien auf Basis akademischer Forschungsergebnisse.
Den Fokus legte er schließlich auf das sogenannte Momentum als seiner Ansicht nach wesentlichen (Über-)Renditetreiber. Für die Veröffentlichung seiner Erkenntnisse wurde Antonacci 2011 mit dem zweiten und 2012 mit dem ersten Preis des Founders Awards for Advances in Active Investment Management ausgezeichnet, der jährlich von der National Association of Active Investment Managers (NAAIM) verliehen wird.
Im Jahr 2014 machte er die Ergebnisse seiner langjährigen Arbeit dem US-Publikum über den hier vorgestellten Buchtitel zugänglich, welcher zwei Jahre später ins Deutsche übersetzt und im Börsenbuchverlag veröffentlicht wurde. Die in Übersee preisgekrönte Publikation hat das Dual-Momentum-Investing, welches die relative Stärke des Kursmomentums mit dem trendfolgenden absoluten Momentum kombiniert, erstmals einer nennenswerten Anzahl von Anlegern bekannt gemacht.
Das Dual-Momentum-Investing ist auch in der Folge Antonaccis Lebensthema geblieben. Neben seinem Standardwerk hat er unzählige Beiträge zum Momentum und daraus abgeleiteten Strategien verfasst, die er bis heute regelmäßig auf seinen Blogs Dual Momentum und Optimal Momentum veröffentlicht.
Wie lautet die Hauptthese des Autors?
Aus der empirischen Kapitalmarktforschung der letzten knapp 100 Jahre destilliert Antonacci eine einzige durchgehende Faktorprämie heraus, die diesen Namen tatsächlich verdient und unabhängig vom Markt, der Branche, dem Einzeltitel sowie dem betrachteten Zeitraum zu beobachten ist. Eben das Momentum.
Als Faktoren oder Faktorprämien werden Treiber von Wertpapierrenditen und Wertpapierrisiken bezeichnet, die sich in den verfügbaren Zeitreihen statistisch signifikant identifizieren lassen. Bekannte und gerade im Zusammenhang mit der optimalen Zusammenstellung von Exchange Traded Funds (ETFs) diskutierte Faktoren sind beispielsweise die Marktkapitalisierung, der Substanzwert oder das politische Risiko.
So vertraten beziehungsweise vertreten zahlreiche Autoren die Auffassung, dass Aktien von Unternehmen mit geringem Börsenwert (Small Caps) auf lange Sicht und im Durchschnitt eine höhere Rendite erzielen als große Unternehmen, sogenannte Value-Aktien besser abschneiden als Growth-Aktien und Titel aus Schwellenländern diejenigen aus Industrieländern schlagen.
Doch was hat es nun mit dem sogenannten Momentum auf sich? Und worum handelt es sich überhaupt bei dieser Faktorprämie? Nun, das Momentum ist eine sogenannte technische Kennzahl, die Auskunft über die Richtung und Dynamik eines (Kurs-)Verlaufs geben soll. Die Deutsche Börse definiert das Momentum als „Differenz zwischen dem aktuellen und einem zurückliegenden Kurs einer Aktie, dividiert durch diesen zurückliegenden Kurs. Es wird stündlich, täglich, wöchentlich oder monatlich berechnet.“
Aus dieser Definition wird bereits ersichtlich, dass dem Momentum keinerlei fundamentale Faktoren zugrunde liegen. Es stützt sich ganz allein auf die nicht nur im Bereich der Börse zu beobachtende Pfadabhängigkeit von Entwicklungen – bis zum Strukturbruch. Nicht nur in bibelfesten Kreisen ist das Momentum auch in Anspielung an das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25, 14) als Matthäus-Effekt bekannt: „Denn wer hat, dem wird gegeben werden und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.“
Genau diese statistisch auffällige Faktorprämie, allerdings auf langfristiger Basis und im Rahmen einer doppelten – eben dualen – Betrachtung, hat Antonacci in ein ebenso automatisiertes wie einfaches Market-Timing-Modell transferiert, welches zumindest im Backtest über das letzte halbe Jahrhundert risikobereinigt systematische Überrenditen im Vergleich zu einer marktbreiten Buy-and-Hold-Strategie lieferte.
Sein Fazit: „Während Gelehrte noch immer damit beschäftigt waren, immer komplexere Modelle der Finanzmärkte zu konstruieren, hat sich das einfache Momentum als vorrangige Marktanomalie bewährt.“
Wie wird diese These begründet?
Tatsächlich nimmt die qualitative wie quantitative Herleitung und Begründung seines Ansatzes den weitaus größten Teil des Buches ein. Letztlich stützt sich Antonacci dabei auf einen Kerngedanken: Wie lassen sich ausgeprägte Verlustphasen vermeiden? Tatsächlich erweisen sich einschneidende Baissephasen als Renditekiller, die, wie im Fall der 2000er-Jahre, ein im wahrsten Sinne des Wortes verlorenes Jahrzehnt nach sich ziehen können.
Und genau an diesem Punkt setzt das Momentum an, welches per Definition vor jeder hinreichend langen Baisse ins Minus dreht. Das bedeutet gleichwohl im Umkehrschluss nicht, dass jedes Mal, wenn das Momentum negative Werte annimmt, eine Baisse folgt. Fehlsignale sind also unvermeidbar und knabbern auf dem Weg nach oben an der Rendite, gleichwohl wiegen sie a la longue weniger schwer als die vermiedenen Verluste – schließlich sorgt die Orientierung am Momentum ebenfalls per Automatismus dafür, dass Anleger die Masse der „guten Zeiten“ mitnehmen.
Hier weiß Antonacci letztlich die schlichte Arithmetik auf seiner Seite. Wenn es Anlegern gelingt, die Verluste im Rahmen einer schweren Baisse ebenso wie die spiegelbildlichen Gewinne zu halbieren stellen sie sich besser, als komplett durch das Tal der Tränen zu gehen – sofern im letztgenannten Fall etwaige Frustverkäufe nicht ohnehin die Rendite vollends verhageln. Hierzu ein Beispiel: Ein Kursverlust von 50 Prozent mit anschließender Erholung in Höhe von 50 Prozent führt zu einem Rückgang des Portfoliovolumens von 25 Prozent. Gelingt es hingegen, den Drawdown ebenso wie den Kursgewinn um die Hälfte auf jeweils 25 Prozent zu reduzieren, beträgt besagter Rückgang lediglich 6,25 Prozent.
In der Praxis macht sich der Autor die Faktorprämie über zwei Dimensionen des Momentums zunutze, die in Kombination den Kern seiner Global Equities Momentum (GEM) genannten Anlagestrategie bilden. Hierzu teilt er das weltweite Aktienuniversum in ein US-amerikanische Sphäre sowie die Welt ex USA, das Anlageklassentrio komplettieren US-amerikanische Schatzwechsel. Alle drei Komponenten lassen sich kostengünstig und leicht durch entsprechende ETFs abdecken.
Steht die Titelauswahl durchläuft der Momentum-Investor einmal im Monat stets dasselbe Schema. Zunächst ist nach Antonacci in einem ersten Schritt das relative Momentum zu ermitteln, indem die Entwicklung der US-Aktien mit derjenigen der Nicht-US-Aktien verglichen wird. Die Komponente, die sich auf Sicht der letzten zwölf Monate relativ besser entwickelt hat, sprich das höhere Jahresmomentum aufweist, wird ausgewählt.
Im zweiten Schritt wird das absolute Momentum der ausgewählten Komponente ermittelt. Hierzu wird geprüft, ob die Komponente besser gelaufen ist als die US-amerikanischen Schatzwechsel – ebenfalls auf Jahressicht. Ist das absolute Momentum der Aktienkomponente positiv, hat diese also im betrachteten Zeitraum eine positive Realrendite oberhalb des risikolosen (Kurzfrist-)Zinses generiert, wird in diese zu einhundert Prozent investiert; andernfalls komplett in US-amerikanischen Schatzwechsel.
Der Ansatz sieht also nur dann eine Aktienanlage vor, wenn deren relatives als auch absolutes Momentum positiv ist. Es handelt sich mithin um eine vollautomatische Market-Timing-Strategie, die auf – auch aus Sicht von Antonacci – wenig verheißungsvolles Stock-Picking verzichtet und daher mit einem Zeitaufwand von wenigen Minuten pro Monat auskommt.
Für die 40 Jahre zwischen 1974 und 2013 erzielte GEM eine gut 50 Prozent höhere Durchschnittsrendite pro Jahr im Vergleich zu einer reinen, den Weltaktienmarkt umfassenden Buy-and-Hold-Strategie. Der Maximum Drawdown betrug mit 22,72 Prozent sogar nur knapp ein Drittel der 60,21 Prozent, welche dauerinvestierte Investoren zu verzeichnen hatten.
Dabei war GEM etwa 40 Prozent der Zeit in den US-amerikanischen Aktienmarkt, zu circa 30 Prozent in Nicht-US-Aktien und zu 30 Prozent in US-Schatzwechsel investiert – letzteres vor allem in den Baissephasen jener Epoche. Unter diesen stechen besonders der Dotcom-Crash und die Weltfinanzkrise hervor, gegen die das absolute Momentum einen wirksamen Schutz bot.
Wie ist das Buch geschrieben?
Im Gegensatz zu den meisten Vertretern der Literaturgattung ist das Buch vor allem was den umfangreichen Theorieteil angeht keine leichte Kost. Die akademische Prägung ist Antonacci deutlich anzumerken, der Schwierigkeitsgrad ist in etwa mit Gerd Kommers Klassiker „Souverän investieren mit Indexfonds und ETFs“ (*) vergleichbar – nur eben auf Englisch, sofern die deutsche Übersetzung nicht greifbar sein sollte.
Persönlich schätze ich zudem, dass Antonacci nicht einfach nur seinen Investitionsansatz herunterschreibt, sondern einen großen (Bildungs-)Bogen spannt. Dieser beginnt mit einem historischen Abriss und geht zurück auf den ersten Bewegungssatz des Universalgelehrten Sir Isaac Newton über den Ökonomen David Ricardo, der im Jahr 1838 erstmals Momentum-Prinzipien im Umfeld der Börse beschrieb bis hin zum Beginn der modernen Momentum-Forschung in den 1920er Jahren, der erste systematischen Abhandlung zum Thema im Jahr 1937 sowie der computergestützten Modellierung ab 1967.
Ferner setzt sich der Autor mit Forschungsarbeiten auseinander, die ein Verschwinden von Faktorprämien über die Zeit dokumentieren – mit Ausnahme des Momentums. Notwendigerweise verliert ein Faktor seine Eigenschaft als Renditetreiber, sobald sich eine kritische Anzahl von Anlegern daran orientiert. Das Prinzip der Reflektivität, also die Fähigkeit sozialer Systeme, wozu die Börse zweifellos gehört, Prognosen durch deren Hineinwirken in den Gegenstandsbereich zu widerlegen oder zu bestätigen, habe ich an anderer Stelle erläutert.
Erfreulicherweise widmet Antonacci diesem Aspekt ein ganzes Kapitel. Sowohl das Momentum als Faktor als auch dessen Beständigkeit begründet er vorsichtig sowohl auf Grundlage der Modernen Portfoliotheorie als auch der Verhaltensökonomie, hier insbesondere unter Rückgriff auf die Prospect-Theorie nach Daniel Kahneman und Amos Tversky.
Zu guter Letzt kommen auch Mathematik- und Statistikfreunde in dem mit reichlich historischen Rückrechnungen gespickten Praxisteil sowie den Anhängen voll auf ihre Kosten. Wer mag, kann die bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung reichenden Zeitreihen und darauf fußenden Berechnungen weiter fortführen. Plattformen wie etwa Portfolio Visualizer verfügen über einen kostenfreien Momentum-Backtestrechner.
Wer sollte das Buch lesen?
Zu empfehlen ist „Dual Momentum Investing“ (*) allein aufgrund der Faktenfülle jeder an der Erweiterung des finanziellen Horizonts interessierten Person. Dazu ein Hinweis vorab: Auch wenn Praxis- und Umsetzungsteil gerade einmal ein Sechstel des Buchumfangs ausmachen, empfehle ich dringend, den kompletten Inhalt zu lesen. Zum tieferen Verständnis der Materie dürfte es zudem förderlich sein, dabei chronologisch vorzugehen. Gerade bei der Lektüre von Finanzbüchern schleicht sich bisweilen die nachvollziehbare Unsitte ein, zu den Wertpapierkennnummern vorzublättern.
Reichlich Nektar aus den Inhalten dürften in erster Linie Kursgewinninvestoren saugen können, insbesondere jene, die bei der Geldanlage ohnehin auf marktbreite Brot-und-Butter-ETFs setzen. Für sie bietet sich das Dual-Momentum-Investing gegebenenfalls ergänzend als aktive Handlungskomponente ohne nennenswerten Zeitaufwand nach automatisiertem Regelwerk an. Gerade bei langfristig orientierten Buy-and-Hold-Anlegern könnte dieser dazu beitragen, Durststrecken besser, sprich mit weniger Verlusten, durchzuhalten.
Zumindest in Deutschland wird die Umsetzung der Strategie mit steuerlichen Nachteilen erkauft, die natürlich nicht in die Berechnungen Antonaccis eingeflossen sind. Ferner ist mit heimischen Brokern der Ansatz nicht eins zu eins abzubilden, da es beispielsweise an entsprechenden Nicht-US-Aktien-ETFs fehlt. Gleichwohl erlauben die heimischen Neobroker, die beim Dual-Momentum-Investing anfallenden Gebühren gen Null zu drücken.
In einem der jüngsten Crashs konnte das Momentum seine Anhänger allerdings auch nicht vor Verlusten bewahren. Die Rede ist natürlich vom Shutdown-Crash im Frühjahr 2020 – hier folgte der Absturz schlichtweg zu schnell. Zum Trost folgte die Erholung auf dem Fuße. In was für einem Szenario verliert die Strategie ihre Robustheit? Das wäre bei ausgeprägten und wiederkehrenden Zyklen in relativ kurzen Abständen der Fall, die den Umschichteffekt konterkarrieren. Das mag, wie schon in der Vergangenheit, künftig temporär so kommen, erscheint als durchgehendes Kursmuster allerdings unwahrscheinlich – wenn auch nicht unmöglich.
Neben der englischen wurde wie eingangs erwähnt auch eine deutsche Ausgabe aufgelegt. „Doppeltes Momentum für doppelte Gewinne: Ein innovativer Investmentansatz für höhere Gewinne bei reduziertem Risiko“ (*) ist jedoch im Gegensatz zum Original aus Übersee nur noch antiquarisch erhältlich – und das auch nur sporadisch.
PS: Pünktlich zur Veröffentlichung dieser Rezension hat just der weiter oben erwähnte Gerd Kommer einen Artikel veröffentlicht, der sich kritisch mit dem Downside Hedging auseinandersetzt, zu dem auch das Momentum-Investing zählt und den ich als Kontrastprogramm zur Lektüre anempfehle.
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PS: Gibt es noch weitere Bücher zum Thema, die sich für die Leser des Blogs zu rezensieren lohnt? Schreiben Sie mir Ihre Vorschläge – mit oder ohne E-Mail-Kontakt!
Sehr gutes Timing! Das Geldgespräch mit Herrn Beck fand ich auch sehr anregend, wobei mir im Nachhinein der Webauftritt des v.g. Herrn dann doch etwas seltsam vorkam. Das Thema bzw. die Strategie scheint jedoch derart viel Potential zu haben, dass die Neugier geweckt war. Ein Buch konnte ich leider noch nicht ergattern.
Obwohl die Strategie für sich schon genügend Performancevorteil ggü. üblichen Buy&Hold bringt, bin ich der Meinung, dass man in Kombination mit einem Stoploss die eingefahrenen Überrenditen einfrieren könnte. Herr Antonacci hat sich damit auch befasst und es als förderlich zur Vermeidung der „pitfalls of human judgment “ bezeichnet . https://dualmomentum.net/2015/06/13/momentum-and-stop-losses/
Im Übrigen ist die DM-Strategie auch im Bereich Krypto angekommen. Auf https://tradeium.io/ wird die Methode relativ erfolgreich auf einen Korb bunter Coins angewandt. Hierbei fehlt aber auch, meiner Meinung nach, der Stoploss zur Gewinnsicherung.