Inhalt
Von Henry David Thoreau, 96 Seiten, 9,00 Euro, detebe 2010
„Ziviler Ungehorsam wird zur heiligen Pflicht, wenn der Staat den Boden des Rechts verlassen hat.“ Historische Vorläufer dieser Maxime lassen sich bis in die Spätantike, so zum Beispiel bei Augustinus von Hippo, zurückverfolgen. Gleichwohl stammt das Zitat von einem weltweit geachteten, zeitgenössischen Friedenskämpfer. Mahatma Gandhi konnte sich bei obigem Leitsatz nach pflichtbewusster irdischer „Heiligkeit“, der letztlich sein Konzept des gewaltfreien Widerstandes geschuldet ist, auf eine höchst weltliche „Bibel“ berufen, deren Inhalte er sich während eines Gefängnisaufenthaltes in Südafrika zu eigen machte.
Einige Dekaden zuvor, im Jahr 1848, hatte sie der Lehrer, Naturliebhaber und Unternehmer Henry David Thoreau unter dem Titel „Civil Disobedience“ jenseits des Atlantiks veröffentlicht. In der Vereinigten Staaten avancierte er nach seinem Tod im Jahr 1862 zu einer überparteilichen Ikone, hierzulande ist der kaum zu kategorisierende Autor bestenfalls Cineasten ein Begriff. So eröffnete der „Club der toten Dichter“ in dem gleichnamigen Film seine Sitzungen mit einer legendären Passage aus „Walden oder Leben in den Wäldern“, dem bekanntesten Werk Thoreaus: „Ich ging in die Wälder, weil ich bewusst leben wollte. Ich wollte das Dasein auskosten. Ich wollte das Mark des Lebens einsaugen! Und alles fortwerfen, das kein Leben barg, um nicht an meinem Todestag Innezuwerden, dass ich nie gelebt hatte.“
Der Club der Toten Dichter: Thoreau-Szene (Video)
Das wenige Dutzend Seiten umfassende Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“, eine rhetorisch geschliffene Abhandlung über die Widerstandspflicht bei Staatsversagen, gedieh nach seiner Veröffentlichung rasch zur staatskritischen Quelle intellektueller Inspiration sowie zur klassischen Lektüre der Entrechteten im ewigen Ringen des positiven Rechts mit dem Naturrecht. Der Pazifist und Universalist Thoreau, der selbst wegen Nichtabführung der Kopfsteuer inhaftiert wurde, beruft sich im Kern auf das vernunftbasierte Nichtaggressionsprinzip, das jede nichtfreiwillige Interaktion delegitimiert, weswegen man „nicht den Respekt vor dem Gesetz […], sondern vor der Gerechtigkeit“ haben sollte.
Für ihn, einen Zeitzeugen der Sklavenwirtschaft und territorialen Expansion der USA – der Aufsatz entstand unter dem Eindruck des Mexikanisch-Amerikanischen Kriegs –, war klar, dass kein Gesetz einen Menschen gerechter macht und jede Regierungsmacht sich letztlich aus physischer Stärke ableitet. Passive Loyalität erweist sich in diesem Kontext daher auch als gewissenhafteste Form der Unterstützung. Hier finden sich bei Thoreau Anklänge an den berühmten Aufsatz „Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen“ des französischen Richters und Autors Étienne de La Boétie, den dieser exakt drei Jahrhunderte zuvor im Jahr 1548 veröffentlicht hat.
Auch wenn Thoreau, Verfechter eines freiheitlichen Gemeindeföderalismus, letztlich uramerikanische Themen seiner Zeit thematisiert und sich seine Handlungsempfehlungen als kaum mehr alltagstauglich erweisen dürften, hat sein Aufruf zeitlose Gültigkeit. Dies umso mehr, als seit Jahrzehnten eine Erosion einst selbstverständlicher rechtsstaatlicher Grundsätze beziehungsweise deren Verkehrung ins exakte Gegenteil zu beobachten ist. Auch angesichts der Qualität der Regierungsapparate ist seinem Leitbild durchaus Charme abzugewinnen: „Die beste Regierung ist die, welche am wenigsten regiert.“
Sowohl „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ als auch „Walden oder Leben in den Wäldern“ können als vollständige Hörbuchfassungen in deutscher Sprache gratis auf YouTube abgerufen werden. Das hier besprochene Buch ist nach Kapiteln gegliedert als Abspielliste hinterlegt.
Henry David Thoreau: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat (Video)
Henry David Thoreau: Walden (Video)
Anzeige
Beitrag teilen
PS: Gibt es noch weitere Bücher zum Thema, die sich für die Leser des Blogs zu rezensieren lohnt? Schreiben Sie mir Ihre Vorschläge – mit oder ohne E-Mail-Kontakt!