Rezension – Auswege aus der Staatsschuldenkrise: Eine Untersuchung verschiedener Optionen anhand historischer Fallbeispiele

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Von Christina Anselmann, 248 Seiten, 22,80 Euro, Metropolis 2012

Ich kann mich noch gut an die Sommeraufenthalte der 1980er und 1990er Jahre in meiner spanischen Heimat erinnern. Im zerklüfteten Nordwesten, jenseits der industriell wie touristisch pulsierenden Zentren waren und sind die Löhne traditionell niedrig und die Arbeitslosigkeit hoch. Zahlreiche befreundete Familien suchten ihr Glück in der Ferne und berichteten seinerzeit von den hervorragenden Chancen und dem kommoden Leben in kulturell wie sprachlich eng verwobenen Venezuela.

Titelbild von Auswege aus der Staatsschuldenkrise

Venezuela School of Economics

Eine Generation später hat die dem demokratischen Sozialismus verpflichtete und seit 1999 amtierende Regierung den einstigen Hoffnungsträger Südamerikas, in dem Wohlstand nun wieder in Kalorien gemessen wird, an den Bettelstab gebracht. Ein probates Mittel zur Zerstörung der wirtschaftlichen Basis war die Hyperinflation, die auf ihrem Höhepunkt im Jahr 2018 dem Internationalen Währungsfonds (IWF) folgend knapp 1,4 Millionen Prozent betrug. Die Regierung ließ die Druckerpressen rotieren, um den gigantischen Geldbedarf in Folge der aufgetürmten Zahlungsversprechen und -verpflichtungen zu decken.

Weiter südlich, bezeichnenderweise am Rio de la Plata – spanisch für Silberstrom –, entschied sich die Regierung im Jahr 2002 für einen alternativen Refinanzierungsansatz. Zuvor erwies sich die ökonomische Entwicklung Argentiniens als die Light-Version von Venezuela im Zeitlupenformat. Noch die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gehörte das Land zu den reichsten der Erde, für unzählige europäische Auswanderer war Buenos Aires der erste Anlaufpunkt auf dem amerikanischen Kontinent. Und häufig genug auch der letzte – selbst für altvordere Familienmitglieder.

Moratorio argentino

In den schmalen Gassen des Hafenviertels vermengten sich die melancholischen Melodien der Einwanderer mit den einheimischen Rhythmen zum Tango Argentino, ein „trauriger Gedanke, den man tanzen kann“. Das passt zu einem Land, dessen Abstieg zur von Dauerkrisen geplagten Republik sich über viele Jahrzehnte vollzog und dem heutzutage allein der König Fußball zu euphorischen Glücksmomenten verhilft.

Auf dem internationalen Parkett finanziell ausgetanzt hatte Argentinien schließlich zum Jahreswechsel 2001/2002, als Adolfo Rodríguez Saás im Zuge seiner fünftägigen Präsidentschaft die einseitige Einstellung des Kapitaldienstes auf die Staatsschulden erklärte. Praktischerweise betraf dieses Moratorium auch zahlreiche im Ausland umlaufende Staatsanleihen Argentiniens, was die Kosten der Finanzoperation für die inländische Bevölkerung zunächst in Grenzen hielt.

Zwischen Wählerbestechung und Bankrott

Damit sind in Kürze zwei historische Konstanten skizziert, über die sich die öffentliche Hand ihrer Schulden zu entledigen wusste. Genau solche Konstanten sind der Gegenstand der vorliegenden Publikation. Tatsächlich handelt es sich hierbei um die Bachelorthesis einer Absolventin der Wirtschaftswissenschaften, die völlig zu Recht ihren Weg in das Publikationsverzeichnis eines ökonomischen Fachverlages gefunden hat. Und das liegt im vorliegenden Fall keineswegs ausschließlich an der dauerbrennenden Aktualität des Themas. Salopp formuliert geht die Autorin zwei Fragen nach: Wie kommen Staatsschulden in die Welt und wie wird der öffentliche Schuldner diese wieder los, wenn es zu sehr pressiert?

Was die erste Frage angeht streift Anselmann zunächst die gängigen Legitimationstheorien der Staatsverschuldung wie Konjunkturglättung und Lastenverteilung, um anhand des Datenmaterials für die Bundesrepublik Deutschland den politischen Prozess, Stichwort „Wählerbestechung“, als eigentlichen Wegbereiter der Schuldenspirale zu überführen. Wie man die einst gerufenen Geister mit welchen Folgen wieder los wurde exerziert die Autorin anschließend anhand folgender historischer Archetypen exemplarisch vor: Deutschland nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg, USA und Großbritannien zwischen 1945 und 1980 sowie – siehe oben – Argentinien ab 2002.

Die fünf Wege der Entschuldung

Insgesamt destilliert sie fünf Faktoren heraus die – meist in Kombination angewandt – stets eine öffentliche Verschuldung selbst in mehrfacher Höhe des Sozialproduktes zum Implodieren respektive Abschmelzen brachte: Inflation, Wirtschaftswachstum, Finanzrepression, Haushaltskonsolidierung und Zahlungsausfall auf inländische wie ausländische Forderungen. Wen der notwendigerweise akademisch gehaltene Duktus sowie die eine oder andere plakatierte Lehrbuchweisheit nicht schreckt erwirbt mit dem vorliegenden Werk eine akribisch zusammengestellte Datensammlung sowie hervorragende historische Aufarbeitung zum Thema.

Das Buch liefert ferner eine Blaupause für den nicht nur in Euroland eingeschlagenen Weg, über Basel III und Bankenregulierung, die Änderungen der Rahmenbedingungen für die Kapitalanlagen der Versicherungswirtschaft sowie die Zentralbankpolitik im Eurosystem einschließlich Modern Monetary Theory des Schuldenproblems Herr zu werden. Die zweifellos friktionsärmeren Lösungen, die Konsolidierung der Haushalte oder ein Herauswachsen aus der Schuldenquote, stehen aktuell nicht hoch im Kurs der Politik. Vielleicht ist es Zeit, einen Tanzkurs zu belegen. Tango Argentino könnte inspirierend sein.

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