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Vom antiken Wucher zum postmodernen Negativzins
Einzig sicher im Leben ist nur der Tod. Gleichwohl ist es in den Ländern der westlichen Welt wohlfeil gelungen, den Schwarzen Schnitter geräuschlos aus der Gegenwartskultur zu verbannen. Lediglich punktuell lässt er noch seine Fratze in unserem saturierten Alltag aufblitzen und gemahnt den unbeteiligten Betrachter an die Zumutung des Memento Mori, die Apokalypse der eigenen Vergänglichkeit. In aller Regel sucht Gevatter Tod die ihm Zugedachten jedoch in der abgeschiedenen Sterilität medizinischer Facheinrichtungen auf – neuerdings sogar ohne dass ihnen die Weiterlebenden ihre Referenz erweisen dürfen.
So alt wie die unausweichliche Auseinandersetzung mit der diesseitigen Endlichkeit ist auch das Streben der Erdenbewohner nach Unsterblichkeit. Als Sehnsucht wird sie bereits in einer der ältesten überlieferten Dichtungen der Menschheitsgeschichte, dem vermutlich knapp viertausend Jahre alten Gilgamesch-Epos (*), thematisiert. Die in Keilschrift auf gebranntem Ton verfassten Fragmente des Werks erzählen im Zeitraffer die nach wie vor lesenswerte Zivilisationsgeschichte, die Metamorphose des unedlen Wilden zum kultivierten Menschen einschließlich der Suche des namensgebenden Helden und Halbgotts Gilgamesch nach der Unvergänglichkeit. So findet er zwar die Pflanze der ewigen Jugend, jedoch kommt sie ihm auf dem Rückweg nach Uruk, seiner Heimatstadt, auf immer abhanden.
Der Preis der Unsterblichkeit
Eventuell war dieser Verlust eine glückliche Fügung, wenn nicht gar die göttliche Gunst des sumerischen Pantheons? Jedenfalls hat das mit der Unsterblichkeit zwangsläufig einhergehende Dilemma der argentinische Essayist Jorge Luis Borges in seiner phantastischen Erzählung „El imortal“, zu Deutsch „Der Unsterbliche“, skizziert. Die Kurzgeschichte (*) handelt von einem römischen Tribun, der sich, ebenfalls getrieben von der Sehnsucht, den Tod zu überwinden, aufmacht, die Stadt der Unsterblichen zu entdecken. Im Gegensatz zu Gilgamesch gelangt er an sein Ziel und vermag sich am Quell des ewigen Lebens zu laben, um prompt in Apathie zu verfallen. Die Zeit und mit ihr jegliches Handeln, hatte allen Wert verloren.
Schließlich muss er konstatieren: „Unsterblich zu sein ist nichts Besonderes; vom Menschen abgesehen sind es alle Geschöpfe, da sie den Tod nicht kennen; […] Belehrt durch jahrhundertelange Übung hatte die Gemeinschaft der Unsterblichen die Vollendung der Duldsamkeit, ja der Nichtachtung erlangt. Sie wußte, daß innerhalb eines unendlichen Zeitraums jedem Menschen alles widerfährt.“ Nach hunderten Jahren einer paralysierten Existenz gelingt es ihm einen letzten, sinnstiftenden Strohhalm zu ergreifen, die Aussicht auf den Tod. Denn „es gibt einen Fluß, dessen Wasser Unsterblichkeit verleihen; folglich muß es in einer anderen Gegend dieser Welt einen Fluß geben, dessen Wasser sie aufheben.“ Am Ende erlangt der einstige Tribun im Jahr 1921 die Sterblichkeit zurück.
Was diese Vorgeschichte mit Geld und Finanzen zu tun hat? Eine ganze Menge. Es ist offensichtlich die sichere Aussicht auf das Ende unseres irdischen Daseins, welches überhaupt erst die Kategorie der Zeit in unser Leben treten lässt. Das Zeitkonzept selbst ist Ausdruck einer unüberwindbaren Knappheit, ohne die der unbarmherzige Takt der unser Leben bestimmenden Messgeräte sinnlos wäre. Es erzwingt Präferenzen auszubilden und Prioritäten zu setzen, um eine effiziente Aufteilung vorhandener Ressourcen zur Verfolgung konkurrierender Ziele sicherzustellen – die Lehrbuchdefinition der Ökonomie. Demnach sind Ressourcen auch nicht per se knapp, sondern ausschließlich zu bestimmten Terminen. Und die volkswirtschaftliche Schlüsselgröße zur Koordination von Terminen ist – daran hat sich seit dem Wirken Gilgameschs nichts geändert – der Zins.
Eine kleine Zinstheorie
Was genau ist der Zins? Der Zins ist gerade nicht, wie so häufig zu lesen, der Preis für das Geld beziehungsweise das Geldleihen, sondern der Preis für die Zeit, also die Möglichkeit, die Zukunft in die Gegenwart ziehen zu können. Der Zinssatz selbst setzt sich dabei aus drei Komponenten oder Prämien zusammen:
- Die Geldentwertungsprämie gleicht die prognostizierte Entwertung und damit das Risiko aus, dass das zurückgezahlte Darlehen real weniger wert ist als der ausgeliehene Betrag.
- Die Riskoprämie berücksichtigt, dass der Geldnehmer seiner Verpflichtung zur Rückzahlung nicht nachkommt, beispielsweise durch Insolvenz oder Betrug.
- Die Zinsprämie ist der eigentliche Urzins, also die Prämie für den temporären Verzicht des Geldgebers, die kreditierten Mittel anderweitig zu nutzen.
Die Geldentwertungsprämie ist historisch betrachte meist positiv, was schlichtweg mit der Tendenz zum sprichwörtlichen Aufblähen, lateinisch „inflare“, der Geldmenge in der ebenfalls seit der Antike regelmäßig gepflegten Finanzarchitektur einhergeht. Eine Geldmengenausweitung wiederum kann, muss jedoch nicht auf das Konsumgüterpreisniveau durchschlagen, welches üblicherweise zur Messung der Inflationsrate, der eigentlichen Teuerung, herangezogen wird. So nutzt zum Beispiel das Statistische Bundesamt hierfür den Verbraucherpreisindex für Deutschland (VPI), der wiederum auf der prozentualen Veränderung der Preise von Dienstleistungen und Waren eines repräsentativen Warenkorbs fußt.
Die mittlerweile seit den frühen 1990er Jahren andauernden und nach wie vor vergeblichen Versuche der japanischen Notenbank, die Inflation in Nippon durch eine exzessive Aufblähung der Geldmenge zu beleben belegt wiederum, dass beide Größen zumindest phasenweise keineswegs korrelieren müssen. Gleichzeitig ist Japan ein zeitgenössisches Beispiel dafür, dass die Geldentwertungsprämie auch negativ werden kann, wenn sie in eine Deflation, also eine Geldaufwertung infolge eines sinkenden Konsumentenpreisniveaus, umschlägt.
Die Risikoprämie wiederum lässt sich aufgrund historischer Ausfallwahrscheinlichkeiten typisiert nach Schuldnerkategorien relativ verlässlich wenn auch nicht sicher ermitteln. Auskunfteien wie die Schufa oder Creditreform in Deutschland sowie lokale wie globale Ratingagenturen liefern Kreditgebern auf Wunsch entsprechende Entscheidungshilfen. Gerade bei großen Kreditportfolios lässt sich aufgrund des Gesetzes der großen Zahl die Risikoprämie vergleichsweise zuverlässig handhaben.
Bleibt noch die eigentliche Zinsprämie oder eben der Urzins als Ausdruck und Kompensation knapper (Lebens-)Zeit. Angesichts der möglichen Opportunitäten, also des Alternativnutzens und der unsicheren Restlebensdauer ist der Urzins stets positiv. Das schlichte Verstreichen von Zeit macht es unmöglich, die spätere Erfüllung eines Ziels der früheren vorzuziehen. Ein negativer Urzins stellt mithin ein Paradoxon aus der Stadt der Unsterblichen dar. Die enge Korrelation zwischen (Lebens-)Zeit und (Ur-)Zins spiegelt sich auch statistisch in der Finanzmarktgeschichte wider. Mit der zunehmenden durchschnittlichen Lebenserwartung der Menschen sank das durchschnittliche Zinsniveau; die Restlebenserwartung bestimmt die Knappheit des Faktors Zeit und damit auch dessen Bepreisung.
Die Zeitdiebe der Zentralbanken
Von der mesopotamischen Antike bis in die postindustrielle Gegenwart ist die eigentliche Zinsprämie von 30 Prozent per annum auf etwa zwei Prozent gesunken – Tendenz weiter fallend. In Verbindung mit der Geldentwertungs- und Risikoprämie werden die periodischen Entgelte für das Spektrum zinstragender Anlagen laufend durch Angebot und Nachfrage an den Kredit- und Kapitalmärkten ausgehandelt. Die so ausgehandelten nominalen Marktzinsen können und werden selbstverständlich durch die Zentralbanken maßgeblich beeinflusst.
Als stets liquide Monopolisten ist es den Währungsbehörden möglich, den Marktzins ins Minus zu drücken, beispielsweise indem sie Anleihen zu einem Preis kaufen, der höher als die Summe des gesamten Kapitaldienstes liegt. Das ändert allerdings nichts daran, dass die Zinsprämie nicht unter null fallen kann, wie die Ausweichreaktionen der Marktteilnehmer belegen, die reale Negativzinsen bestenfalls als Haltekosten ausfallsicherer Liquidität zu akzeptieren bereit sind.
Darüber hinaus stellt ein künstlich herbeigeführter Negativzins eine Umkehr der Zeit dar, der die Finanzarchitektur und mit dieser die auf zinstragenden Geldwerten basierenden Altersvorsorgesysteme im Kapitaldeckungsverfahren buchstäblich auf den Kopf stellt. In Deutschland birg dies in Kombination mit dem durch den feststehenden demographischen Schwund erodierenden Umlageverfahren öffentlich-rechtlicher Versorgungssysteme für die Zukunft erheblichen sozialpolitischen Sprengstoff.
Zwischen zwei Übeln
Zum Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 2020 und damit 30 Jahre beziehungsweise eine Generation nachdem noch mit der neun vor dem Komma gerungen wurde, rentierten sämtliche Emissionen des Bundes negativ. Selbst Staatsanleihen mit der Höchstlaufzeit von dreißig Jahren warfen im Dunstkreis der Einheitsfeierlichkeiten zum runden Jubiläum eine (Negativ-)Rendite von exakt -0,105 Prozent ab – pro Jahr. Gleichzeitig haben die nicht nur unter der Knute der EZB nach unten geprügelten Zinsen und weit geöffneten Geldschleusen die Aktienkurse und Vermögenspreise rund um den Globus in ambitionierte Höhen getrieben. Für defensiv bis ausgewogen aufgestellte Investoren ein klassisches Dilemma zwischen sicherem Verlust und hohem Risiko!
Nun können sich Anleger, die zwischen zwei Übeln wählen müssen frei nach Karl Kraus auch für keines davon entscheiden. Immerhin steht ihnen die Möglichkeit offen, die Vorteile beider Anlageklassen in sogenannten hybriden Wertpapieren, Zwittern, welche die Eigenschaften von Aktien und Anleihen in sich vereinen, zu bündeln. Unter diesen decken die hierzulande nach wie vor weitgehend unbekannten Preferred Shares eine interessante Nische ab. Der englische Begriff ist absichtlich gewählt, handelt es sich doch um eine originär nordamerikanische Wertpapiergattung, die selbst in der Fachpresse ebenso gerne wie falsch mit „Vorzugsaktie“ betitelt wird.
Zwar zählen die börsennotierten Preferred Shares analog zu heimischen Vorzügen zum Eigenkapital des Emittenten und gewähren auch kein Stimmrecht. Damit enden die Gemeinsamkeiten aber auch schon. Anders als ihr vermeintliches Pendant sind Preferred Shares mit einer Fixdividende versehen, das heißt Investoren können den Zahlungsstrom im Vorfeld fast exakt kalkulieren. Die Einschränkung ergibt sich aus dem Recht des Unternehmens, die überwiegend quartalsweise fälligen Zahlungen auszusetzen, wenn es rote Zahlen schreibt. Im Gegenzug müssen die ausgesetzten Dividenden meist nachgeholt werden, sobald sich der Emittent wieder erholt hat, vorher dürfen auch keinerlei Ausschüttungen an Stammaktionäre erfolgen.
Zudem trägt ein weiterer Faktor dazu bei, dass Preferred Shares wesentlich weniger schwankungsanfällig sind als entsprechende Common Shares derselben Gesellschaft. Ursächlich hierfür ist das Rückkaufsrecht durch den Emittenten. Diese Option kann ab einem definierten Stichtag, dem sogenannten Call Date ausgeübt werden, muss es aber nicht. Die meisten Preferred Shares laufen endlos, sofern die Rückkaufsoption nicht ausgeübt wird, einige Papiere verfügen über einen Fälligkeitstermin (Maturity Date).
Für Eigner von Preferred Shares besteht damit ein Rückkaufsrisiko (Call Risk). Dieses dürfte dann schlagend werden, wenn sich der Emittent ohne den entsprechenden Preferred Share in Summe vorteilhafter finanzieren kann. Gleichwohl entscheidet hierüber nicht allein die Höhe der Fixdividende. Preferred Shares gelten als Eigenkapital und sind im Gegensatz zu Anleihen und Darlehen ein sehr flexibles Finanzierungsinstrument. So kann es für eine Gesellschaft durchaus wirtschaftlich sein, einen relativ teuren Preferred Share und damit eine hohe Bonität beizubehalten, um sich damit wiederum vergleichsweise niedrige Fremdkapitalzinsen zu sichern.
Eine lukrative Wertpapiernische
Interessierte Anleger können unter Inkaufnahme von Wechselkursschwankungen über den auf diesem Blog bereits vorgestellten Invesco Preferred Shares ETF (LSE: PRFD) in einen Korb aus über 250 der speziellen Papiere investieren. Der in Irland aufgelegte Fonds wird an der London Stock Exchange in US-Dollar gehandelt, die Dividendenrendite betrug die letzten Jahre konstant zwischen vier und fünf Prozent. Ein Nachteil ist die hohe Gewichtung von US-Finanztiteln. In der Frühjahrspanik von 2020 gab der ETF in etwa halb so stark nach wie der Gesamtmarkt und notierte bereits im Juni wieder auf Vorkrisenniveau.
Klar defensiv positionierte Investoren sollten ihr Augenmerk auf besicherte Preferred Shares richten, gewissermaßen eine Nische in der Nische. Ausgegeben werden sie vor allem von Fonds, Holdings und Trusts, die aufgrund eines US-Gesetzes ihre Emissionen zu mindestens 200 Prozent mit Vermögenswerten decken müssen. Mit Preferred Shares des Gabelli Equity Trusts (NYSE: GAB-J) sowie des RiverNorth/DoubleLine Strategic Opportunity Funds (NYSE: OPP-A) wurden bereits zwei solcher Papiere in früheren Blogbeiträgen vorgestellt. Die Quartalsausschütter weisen eine Dividendenrendite von im Schnitt etwa fünf Prozent auf, die jeweilige Deckungsquote respektive Asset Coverage Ratio lag zuletzt bei beruhigenden 440 beziehungsweise 460 Prozent. Den Shutdowncrash im letzten Jahr haben die solidesten Vertreter der Gattung mit niedrigen einstelligen Verlusten und damit nahezu frei von Blessuren gemeistert. Nicht zuletzt deshalb stellt die sturmerprobte Anlageklasse die Defensive meines persönlichen Portfolios.
Wer darüber hinaus turbulente Zeiten ohne Konterpartrisiko überstehen möchte, kann es Gilgamesch gleichtun und sich für Edelmetalle erwärmen. Ihre Reaktionsträgheit, ein den Unsterblichen nahe kommender Mangel an Interaktion mit der Umwelt, haben sie als einzige Anlageklasse die Jahrtausende überdauern lassen. Gleichwohl sollten sich Anleger niemals von der Illusion finanzieller Sicherheit die Sinne vernebeln lassen. Einzig sicher bei der Geldanlage ist nur die Steuer.
Zu diesem Blogbeitrag
Dieser Artikel ist Teil einer sogenannten Blogparade, die unter dem Motto „Sichere Geldanlagen“ von den Geldhelden ausgerufen wurde. Weitere Facetten des Leitmotivs gibt es im aktuellen GELDMAG, welches die Beiträge zahlreicher Bloggerkollegen enthält und kostenlos bezogen werden kann. Wer sich speziell für das Thema Preferred Shares interessiert, dem sei hierzu mein Onlinekurs einschließlich zahlreicher Materialien empfohlen.
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Eine Antwort auf „Memento mori – Apokalypse und Zeitpräferenz“