Inhalt
Von Julian Nebel, 176 Seiten, 17,99 Euro, FinanzBuch Verlag 2017
„Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau“ – die bekannte Volksweisheit gilt zumindest für das wenig schmeichelhafte Segment des modernen Kapitalanlagebetrugs. Gemeinhin gilt Charles Ponzi, ein US-Amerikaner italienischer Abstammung als der bekannteste Vertreter wenn nicht gar Begründer dieser Disziplin. Seinen Machenschaften zu Ehren heißt eine nach dem Schneeballsystem organisierte „Investition“ auch Ponzi-Schema. Historisch betrachtet erwies sich Ponzi allerdings als gelehriger Schüler der bis heute ungeschlagenen Großmeisterin Adele Spitzeder. Mütterlicherseits ebenfalls italienischer Abstammung dürfte ihr „Erfolg“ selbst den Bernie Madoffs weit in den Schatten stellen, zumindest was die sozioökonomischen Folgen ihres Betrugssystems angeht.
Der verzweifelte Start
Eine feine Biographie der unfeinen Dame hat unlängst der Münchner Jurist und Autor Julian Neben ausgearbeitet. Nebst Aufstieg und Fall der Spitzeder‘schen Privatbank zeichnet er ein facettenreiches Sittengemälde seiner Heimatstadt in der Hochphase der Gründerzeit. Hier strandete die Protagonistin Adele Spitzeder im Jahr 1869 nach einer veritablen Theaterkarriere, die sie quer durch die deutschen Landen geführt hatte. Neue Engagements für die Enddreißigerin bleiben aus, die Unterstützungszahlungen ihrer Mutter reichen vorne und hinten nicht. Bald wird sie zur Stammkundin bei den Geldverleihern der Stadt. Innerhalb weniger Monate ist ihr Kreditlimit ausgeschöpft.
Bei einem Spaziergang im Stadtteil Au, heute bekannt durch den traditionellen Starkbieranstich auf dem Nockherberg, kam es schließlich zum schicksalhaften Gespräch mit einer schwangeren Zimmermannsfrau. Sei es aus strategischem Kalkül oder schierer Verzweiflung, Spitzeder bot der Frau an, ihre Rücklagen in Höhe von 100 Gulden bis zur Niederkunft mit 30 Prozent für drei Monat zu verzinsen. Bis zum Zusammenbruch des Spitzeder-Schemas bleibt dies ihr Standardkontrakt. Die Konditionen sprechen sich schnell im Bekanntenkreis der Zimmermannsfrau, bald in der gesamten Au und schließlich bis nach Dachau herum, wo zahlreiche Industriebetriebe den ungelernten Münchnern Arbeitseinkommen versprach.
Das exponentielle Wachstum
Innerhalb kürzester Zeit drängten dutzende, hunderte und schließlich tausende Kleinanleger der alsbald als Spitzeder’sche Privatbank beziehungsweise Dachauer Bank bekannten Geldverwalterin ihre Rücklagen geradezu auf. Befeuert wurde der Zufluss durch sogenannte „Aufleger“, die gegen Provision neue Einlagen warben. Diese summierten sich Anfang 1872 auf täglich etwa 80.000 bis 100.000 Gulden. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Monatsverdienst lag zu der Zeit bei etwa 100 Gulden. Zum Teil musste Spitzeder 1.000 und mehr Wechsel pro Tag unterzeichnen. Rechtlich bewegte sie sich in einem Graubereich, zumal sie penibel darauf achtete, formaljuristisch keine Angriffsfläche zu bieten. Anfeindungen der Presse konterte Spitzeder, indem sie Journalisten für positive Berichte bezahlte oder schwächelnde Zeitungen gleich aufkaufte. Das „einfache Volk“ wiederum vereinnahmt sie durch eine Vielzahl mildtätiger Taten. Gegenüber vom Hofbräuhaus eröffnet sie eine Volksküche, die hohen Zulauf erfährt – das Bier kostet dort grundsätzlich einen Kreuzer weniger als in den Gaststätten üblich.
Mehreren „Bank Runs“ hält sie stoisch stand, löst sogar noch nicht fällige Wechsel ein. Ironischerweise stärkt dies sogar die Spitzeder’sche Privatbank. Bis zum 12. November 1872. An dem Tag stürmt eine Gantkommission, der Vorläufer heutiger Insolvenzverwalter, deren Räumlichkeiten. Für den Fall der Fälle wurde sogar Militär vorgehalten (welches aber nicht zum Einsatz kam). Zwei Tage zuvor hatten die Behörden festgestellt, das Modell beruhe „auf einer verwerflichen Grundlage, daß die Art ihres Geschäftsbetriebes nur auf Ausbeutung des Unverstandes und der Habsucht berechnet ist.“
Die spektakuläre Implosion
Obwohl die Gantkommission mit 15 Prozent eine geradezu traumhafte Insolvenzquote erzielen konnte – über zehn Million Gulden Verbindlichkeiten standen circa zwei Millionen Gulden Vermögenswerte gegenüber – waren die Folgen der Implosion des Spitzeder’schen Imperiums katastrophal. Allein 33.000 amtlich bekannte Anleger, hauptsächlich Arbeiter, Handwerker, Dienstleute aus München und dem Umland hatten dort investiert. „Viel war’s nicht, aber alles“, wie eine zeitgenössische Karikatur titelte. Die enormen Ausmaße verdeutlicht erst der Umstand, dass München seinerzeit knapp 170.000 Einwohner umfasst. „Mehr als die Hälfte der hiesigen Dienstboten ist um ihren Nothpfennig betrogen; vom Lande kommen grausame Berichte über Verheerungen, die dort eintreten“, notierte ein Chronist. Eine Suizidwelle erfasste die Stadt und zahlreiche Gemeinden, beispielsweise Ingolstadt, gerieten in finanzielle Schieflage.
Nach einer mehrjährigen Gefängnisstrafe nahm Adele Spitzeder ihr altes Geschäft übrigens noch einmal auf. 1880 wurde sie erneut verhaftet, mehrere hunderttausend Mark Anlegergelder sichergestellt. Sie wurde jedoch umgehend freigelassen, da die Staatsanwaltschaft befand „dass alle, die nun dumm genug waren, ihr Geld wieder Adele Spitzeder anzuvertrauen, keinen staatlichen Schutz genössen.“ Eine interessante Entscheidung! Einsam und mittellos verstarb Adele Spitzeder am 27. Oktober 1895 im Alter von 63 Jahren.
Zeitlose Lehren und Besonderheiten
Mit seiner Spitzeder–Biographie (*) hat Nebel einen äußerst kurzweiligen Bankenkrimi vorgelegt, der die hier skizzierten Episoden in epischer Breite verbindet. Das faszinierendste am Spitzeder-Schema sind gewisse Mechanismen, die bis in die digital geprägte Gegenwart nichts von ihrer Gültigkeit verloren zu haben scheinen. Was der Spitzeder ihre Dreimonatskontrakte sind aktuell Krypto-Clubs im Kursrausch von Bitcoin und Co., dem ebenfalls ganze Familien verfallen zu sein scheinen.
Bemerkenswert am Fall Spitzeder ist wiederum die parallel zu den Einlagen wachsende Kontrollillusion wider jeder mathematischen Gesetzmäßigkeit. Die Selbstsicherheit ging so weit, dass scheinbar keinerlei Vermögenswerte verschoben und Fluchtmaßnahmen geplant wurden. Bemerkenswert ist ferner die relative Bescheidenheit Spitzeders. Selbst auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs vermied sie es zu prassen und zu protzen, vermutlich auch, um sich nicht allzu sehr über ihre Zielgruppe zu erheben; wohlhabende Kunden verirrten sich kaum zu ihr.
Kundenseitig ist die zeitlose Bereitschaft erstaunlich, den Traum vom finanziellen Glück unter Ausblendung offensichtlicher Risiken erkaufen zu wollen. Weder Sicherheiten noch Geschäftsmodell wurden in nennenswertem Umfang hinterfragt – der Tunnelblick war starr auf die zehn Prozent Rendite pro Monat gerichtet, die bis zum Status der Sorgenfreiheit hochgerechnet wurden. Wie Ponzi, der nach dem Zusammenbruch seines Systems von „der Öffentlichkeit […] immer noch als ein Held betrachtet“ wurde, erfreute sich auch Spitzeder weiter hoher Beliebtheit, zum guten Teil finanzierten mitleidige Gläubiger (!) ihren Lebensabend. Unverdienterweise blieb es ihrem Namen verwehrt, Teil der Fachterminologie zu werden. So ungerecht kann die Geschichtsschreibung sein!
Ergänzendes und Verlosung
Übrigens, Adele Spitzeders in Gefangenschaft verfasste Biographie (*) ist nach wie vor als Buch erhältlich, ebenso eine sehenswerte Verfilmung (*) von Bayrischen Rundfunk aus dem Jahr 2011.
Abschließen möchte ich den Beitrag mit einer Verlosungsaktion. Zu gewinnen gibt es diesmal ein druckfrisches Exemplar des hier besprochenen Buchs „Adele Spitzeder: Der größte Bankenbetrug aller Zeiten“ von Julian Nebel. Teilnehmen kann jeder, der mein Buch „Bargeld statt Buchgewinn“ auf Amazon (*) bewertet und mir den Verweis auf die Bewertung über das Kontaktformular (siehe unten) zuschickt. Den Gewinn verlose ich am 10. Dezember 2017 unter allen Einsendungen, die Benachrichtigung folgt umgehend. Viel Glück!
PS: Gibt es noch weitere Bücher zum Thema, die sich für die Leser des Blogs zu rezensieren lohnt? Schreiben Sie mir Ihre Vorschläge – mit oder ohne E-Mail-Kontakt!