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Von David Van Reybrouck, 200 Seiten, 17,90 Euro, Wallstein 2016
Derzeit lächeln sie einen von jedem Laternenpfahl an, die Damen und Herren Volksvertreter beziehungsweise diejenigen, die es werden wollen. Spätestens jetzt weiß auch der unpolitischste Zeitgenosse: Es ist mal wieder Wahlkampf! Im schnöden Vier-Jahres-Takt wird um jede bald wieder ignorierte Stimme gebuhlt. Flankiert wird dieser, frei nach Frank Zappa, Unterhaltungsbetrieb der Interessensgruppen stets von den folkloristischen Apellen, auch ja die demokratische Teilhabe in Form des Wahlrechts auszuüben. Was letztere angeht, sind ideologiegeschichtlich allerdings erhebliche Zweifel angebracht.
Die heilige Kuh der Demokratie
„Wenn Wahlen etwas bewirken würden wären sie längst verboten.“ Dieser wahlweise Kurt Tucholsky oder Rosa Luxemburg zugeschriebene Aphorismus dürfte einer der wenigen sein, der sich sowohl bei ehemals studentischen APO-Opas als auch demokratiemüden Staatsskeptikern einer gewissen Beliebtheit erfreuen dürfte. Die historisch berechtigte Vertretbarkeit dieser Aussage thematisiert der belgische Bestsellerautor Van Reybrouck in vorliegender Streitschrift die, das sei vorweggenommen, jedem an politischer Geschichte und Theorie interessierten Leser dringend empfohlen werden kann.
„Gegen Wahlen“ ist in Form einer heilkundlichen Fallstudie zur Legitimitätskrise der politischen Gegenwart verfasst. Entsprechend hat der Autor sein Werk in die Abschnitte Symptome, Diagnosen, Pathogenese und Therapie unterteilt. Im Mittelpunkt seiner Kritik steht dabei die erst gut 200 Jahre alte, längst zur heiligen Kuh der Demokratie stilisierte „elektoral-repräsentative Methode“, welche via Parteienherrschaft längst einen Keil zwischen herrschender und beherrschten Klasse getrieben hat. Dies ist laut Van Reybrouck umso erstaunlicher, als dass in den vorhergehenden gut zwei Jahrtausenden das Los und gerade nicht die Wahl die Volksvertreter auf demokratische Weise bestimmte.
Der Zwang zum Urnengang
So war es auch stets die Wahl, welche von den Schöpfern der griechischen Polis über Aristoteles bis hin zu Jean-Jacques Rousseau und den amerikanischen Gründervätern wie selbstverständlich als oligarchisches Machtmittel durchweg Ablehnung erfuhr. Genau aus dem Grund wurde, so die Pathogenese, im Zuge der französischen und amerikanischen Umwälzungen Ende des 18. Jahrhunderts darauf zurückgegriffen, die erbliche lediglich durch eine gewählte Aristokratie ersetzt; wahlberechtigt war jeweils nur die dünne Oberschicht der (männlichen) Bevölkerung. Als weiteres Indiz wird unter anderem angeführt, dass das Wort „Demokratie“ kein einziges Mal in den französischen Verfassungsdebatten zwischen 1789 und 1791 verwendet wird.
Die Aufweichung des eingeschränkten Wahlrechts und der limitierten Befugnisse der ersten neuzeitlichen Volksvertreter führte zu den zeitgenössischen Massendemokratien inklusive Parteiwesen, dem „Wettbewerb der Gauner“ (Hans Herrmann Hoppe) um Rent-Seeking-Maximierung. Der Wahlfundamentalismus als „zentrales Ritual einer globalen Evangelisierung“ kulminierte schließlich in dessen Verankerung als Artikel 21 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, so dass in jüngster Vergangenheit Francis Fukuyama sogar mit Stolz das Dogma US-amerikanischer Außenpolitik wie folgt zusammenfassen konnte: „Jedes Land dieser Welt muss und wird einen Urnengang abhalten, ungeachtet eventueller Kollateralschäden.“
Losen statt Wählen
Dem Wahldiktat setzt Van Reybrouck eine Renaissance des Losverfahrens entgegen. Dieses war nicht nur im antiken Athen, sondern auch während des Mittelalters und der Neuzeit über 500 Jahre in der Republik Venedig aber auch in Florenz und Aragón als fester Bestandteil der politischen Kultur etabliert – in San Marino gar bis Mitte des 20. Jahrhunderts! Im Rahmen der Therapie stellt er einen ausgearbeiteten Idealtypus, das Sechs-Kammern-Modell einer „aleatorischen Demokratie“ des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Terrill Bouricius vor. Realistische Ansatzpunkte sieht Van Reybrouck über den sukzessiven Einstieg in ein beide Elemente repräsentierendes Modell, für welches er sein in elektoral-repräsentativer Agonie harrendes Heimatland Belgien nicht ganz zu Unrecht als prädestiniert erachtet.
Das Ende der Oligarchie
Die Vorteile des Losverfahrens, der aleatorischen Methode, so der Autor, bestehen in der Eliminierung des Berufspolitikertums, der Begrenzung der Korruption und des Lobbyismus, der inhaltlichen und zeitlichen Loslösung von Wahlzyklen, vor allem aber der weitgehenden Aufhebung des Klassengegensatzes von Herrschern und Beherrschten. Ergänzt um eine Charta bürgerlicher Grundfreiheiten, ein Kernproblem freilich, welches Van Reybrouck nicht diskutiert, könnte der von ihm vorgestellte Ansatz ein durchaus probates Mittel sein, die Vormachtstellung der Parteienoligarchie zu brechen. Hier allerdings steht zu befürchten, dass sich der Kreis schließt: Da das Los etwas bewirken würde, wird es vorerst verboten bleiben.
PS: Dieser Beitrag hat offensichtlich nichts mit Finanzen geschweige denn Hochdividendenwerten und damit dem Thema dieses Blogs zu tun. Ich halte die Lektüre des besprochenen Buchs aber dem kritischen Infragestellen des politischen Betriebes für derart zuträglich, dass mir eine Vorstellung angebracht erschien. Der aktuelle Bundestagswahlkampf bietet dafür nun den passenden Anlass. Erst lesen, dann wählen. Oder eben nicht, als lupenreiner Demokrat!
PPS: Gibt es noch weitere Bücher zum Thema, die sich für die Leser des Blogs zu rezensieren lohnt? Schreiben Sie mir Ihre Vorschläge – mit oder ohne E-Mail-Kontakt!
Eine Antwort auf „Rezension – Gegen Wahlen: Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“