Rezension – Die Inflation von 1923: Wie es zur größten deutschen Geldkatastrophe kam

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Von Frank Stocker, 368 Seiten, 27,00 Euro, FinanzBuch Verlag 2022

Fast auf den Tag genau vor einhundert Jahre steuerte das urdeutsche Geldtrauma dem traurigen Höhepunkt entgegen, um kurz darauf innerhalb von nur fünf Tagen sein Ende zu finden. Bis hin zur Oktillion, einer eins mit 48 Nullen, wurde noch im Oktober 1923 die Leserschaft einer deutschen Zeitung auf die latente Geldentwertung vorbereitet, verbunden mit dem sarkastischen Hinweis, die Größenordnung „dürfte vorläufig für den Hausgebrauch reichen“. Derweil brachte die Reichsdruckerei den 100-Billionen-Markschein in Umlauf, die höchste hierzulande je genutzte Denomination – eine Billiarden-Note befand sich bereits in Planung.

Wohl kaum ein neuzeitliches Ereignis hat das Verhältnis der Deutschen zum Geld so sehr geprägt wie die Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg. Mehr noch, fanden beide untrennbar miteinander verknüpfte Ereignisse ihren institutionellen Niederschlag im geld- und fiskalpolitischen Gefüge des Deutschen Reichs, welches sich bis in die Gegenwart als prägend erweisen sollte. Dem tragischen Ursprung, apokalyptischen Verlauf sowie tiefgreifenden Nachwehen jener hierzulande beispiellosen Geldentwertungsorgie ist Frank Stocker in seiner jüngsten populärwissenschaftlichen Publikation „Die Inflation von 1923: Wie es zur größten deutschen Geldkatastrophe kam“ (*) im Stile eines Tage- beziehungsweise Monatsbuchs nachgegangen.

Titelbild von Die Inflation von 1923

Wer ist der Autor?

Frank Stocker ist studierter Historiker und Politologe mit Stationen in Freiburg und Heidelberg, arbeitet seit über zwanzig Jahren als Wirtschafts- und Finanzredakteur bei der WELT und hat ein Händchen für Geldthemen. Denn neben der deutschen Hyperinflation hat er als passendes Gegenstück die Deutsche Mark (*) bis zur Ablösung durch den Euro porträtiert sowie eine Serie von Büchern über die Geschichte und Gestaltung der Banknoten dieser Welt (*) geschrieben. Für seine journalistische Arbeit wurde er unter anderem im Jahr 2012 mit dem Deutschen Journalistenpreis (djp) ausgezeichnet, der alljährlich für herausragende redaktionelle Textbeiträge in deutschsprachigen Print- und Onlinemedien zu Wirtschafts- und Finanzthemen verliehen wird.

Was ist der Inhalt des Buchs?

Kein Schriftsteller hat die die Jahrzehnte währende, relative Friedens- und Wohlstandsperiode vor dem Sündenfall des 20. Jahrhunderts prosaischer zusammengefasst als Stefan Zweig, was die Währungsstabilität ausdrücklich miteinschließt: „Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit. Die Rechte, die er seinen Bürgern gewährte, waren verbrieft vom Parlament, der frei gewählten Vertretung des Volkes, und jede Pflicht genau begrenzt. Unsere Währung, die österreichische Krone, lief in blanken Goldstücken um und verbürgte damit ihre Unwandelbarkeit. Jeder wußte, wieviel er besaß oder wieviel ihm zukam, was erlaubt und was verboten war.“

Diese tausendjährige Unwandelbarkeit endete nicht nur im Deutschen Kaiserreich exakt drei Tage nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Bereits am 04. August 1914 verabschiedete der Reichstag die sogenannten Währungsgesetze, welche die Goldeinlösepflicht der Reichsmark aufhoben und es der Reichsregierung erlaubten, sich via Schatzwechsel direkt bei der Reichsbank zu verschulden, um die für die Kriegsführung benötigten Mittel zu beschaffen. Zudem wurden insgesamt neun Kriegsanleihen aufgelegt und zahlreiche Preise eingefroren, um einer gemutmaßten Teuerung vorzubeugen. Damit war die inflationäre Saat ausgebracht.

Gut vier Jahre später ächzte das Reich unter einem Schuldenstand von etwa 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Dimension war keineswegs außergewöhnlich, Kriege waren schon immer äußerst kostspielig. Allerdings war das Defizit lediglich bis zum siegreichen Ausgang des Waffengangs eingeplant, einem Überbrückungskredit gleich wie nach dem Sieg gegen den linksrheinischen Nachbarn 1871 durch die Kriegsbeute zu tilgen. Es kam bekanntlich anders. Als weitere fiskalische Belastungsfaktoren erwies sich der in Kriegszeiten massiv aufgeblähte öffentliche Sektor sowie über drei Millionen Kriegsversehrte und -hinterbliebene, die versorgt werden wollten.

Zudem verlor das Deutsche Reich im Zuge des in Versailles unterzeichneten Friedensdokuments 13 Prozent seiner Fläche – darunter bedeutende Rohstoff- und Industriegebiete – sowie zehn Prozent seiner Einwohner zuzüglich aller Kolonien und 90 Prozent der Handelsflotte. Die Anerkennung der Alleinschuld Deutschlands begründete ferner alliierte Reparationsforderungen, die 1920 zunächst mit utopischen 96.415 Tonnen Gold festgesetzt und später nach und nach herabgesetzt wurden. Die Bedingungen im Allgemeinen und die Reparationsforderungen im Speziellen waren selbst unter den Alliierten umstritten. Sie führten dazu, dass John Maynard Keynes als Mitglied der britischen Verhandlungsdelegation zurücktrat.

Trotz der nach wie vor intakten und fortschrittlichen industriellen Basis war es dem Deutschen Reich spätestens ab 1921 unmöglich, die für die Reparationszahlungen erforderlichen Devisen zu erwirtschaften. Denn auch die Länder der ehemaligen Entente schlitterten in eine Nachkriegsrezession, wofür freilich dem Deutschen Reich die Schuld gegeben wurde. Zur Eindämmung der „Flut deutscher Waren“ wurden Zollbarrieren errichtet. Devisenmangel und Zahlungsverzug führten letztlich zur Besetzung des Ruhrgebiets im Januar 1923 durch französische und belgische Truppen. Im Rahmen des anschließenden (passiven) Ruhrkampfs verpulverte respektive verpfändete die Reichsbank die letzten Goldreserven und leitet damit in die finale, hyperinflationäre Phase der Papiermarkentwertung über. Diese wurde ein gutes Dreivierteljahr später bei 4,2 Billionen Reichsmark je US-Dollar durch Maßnahmen gestoppt, die in ihrer Radikalität heute nicht vorstellbar sind.

Im Sommer 1924 wurde schließlich die alte, unverändert zirkulierende Papiermark auf im wahrsten Sinne des Wortes handelsübliche Nominalbeträge umgestellt, wobei eine neue Reichsmark einer Rentenmark respektive einer Vorkriegsgoldmark entsprach. Den in der breiten Masse enteigneten Bevölkerungsschichten verschaffte dies wenige Jahre ökonomischer Prosperität, bevor der zweite weltweite Waffengang zahllose Leben und auch die neue Reichsmark zerstörte. Ihr sollte 1948 schließlich die Deutsche Mark folgen – ein Hort der Stabilität und des Wohlstandes. Aber die Geschichte erzählt der Autor in einem anderen Buch (*).

Damit sind auch schon die zehn Jahre deutsche Währungsgeschichte abgesteckt, durch die Stocker den Leser über 50 chronologisch sortierte Kapitel führt. Abgerundet wird die Publikation durch eine knapp gehaltene Erörterung der Schuld an dieser gigantischen Geldvernichtungsaktion sowie die latent im Raum stehende Frage, ob sich denn ein solches Ereignis angesichts der zeitgenössischen Gelddruckorgien nicht wiederholen könnte.

Wie ist das Buch geschrieben?

Als altgedienter Wirtschaftsjournalist beherrscht Stocker selbstverständlich sein Handwerk. Das populärwissenschaftliche Buch ist sehr gut und flüssig lesbar, die Idee, die zum Teil weit verzweigten Ereignisse mit weitreichenden Neben- und Folgewirkungen im Tagebuchstil zu verfassen, belebt die historische Materie wieder und macht diese auch nach über einhundert Jahren für den Leser zugängig. Zudem versteht es der Autor einem guten Drehbuchschreiber gleich einen Spannungsbogen aufzubauen, indem er zahlreiche Kapitel über Cliffhanger-Elemente bis zum furiosen Finale miteinander verknüpft.

Inhaltlich punktet Stocker mit der durchweg gelungenen Einbettung mikroökonomischer Elemente in die makroökonomische Entwicklung, wodurch es ihm gelingt, ein sehr lebendiges Bild jener Ära zu zeichnen anstatt sich alleine auf die Angabe und Erörterung trockener Jahreszahlen und Personenangaben zu beschränken. Dazu zählt beispielweise die laufende Notiz der wichtigsten Lebensmittelpreise, wobei übrigens Butter noch vor Rindfleisch durchweg den höchsten Kilogrammpreis aufweist, wie diese zunehmend die Alltagsorganisation der Bevölkerung bestimmen und bald zu einer äußerst eng getakteten und straffen Struktur des Familienlebens an den Zahltagen führt. Auch die Händlerperspektive wird erörtert, die angesichts der ungewissen Kaufkraft der Mark dazu übergehen, erst nach Veröffentlichung der Devisenkurse ihre Läden zu öffnen und Preise auszuzeichnen. Mit zunehmender Entkernung der Währung, auch das vermittelt Stocker sehr eindrucksvoll, löst sich das multilaterale Beziehungsgeflecht vollends auf. Am „Ende des Geldes“ steht der Kampf um das tägliche Überleben, macht sich gemeinhin Endzeitstimmung breit angesichts eines zu erwartenden Hunger- und Seuchenwinters 1923/1924, der vermutlich hunderttausende das Leben gekostet hätte.

Politische Krisen ziehen seit jeher Interventionsspiralen nach sich, die vor allem ihre anfängliche Dynamik aus dem Wechselspiel zwischen politischer Übergriffigkeit und privatem Anpassungsverhalten schöpfen. Da macht die Ära der Hyperinflation keine Ausnahme, zumal in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Zusammenhang zwischen Preissteigerungsraten und Staatsfinanzierung per Notenpresse nicht gesehen wurde beziehungsweise nicht gesehen werden wollte. Und so verkamen viele Gegenmaßnahmen zu reiner Symbolpolitik. Dies vor allem auch deshalb, da eine Einigung der politisch relevanten Interessensgruppen in den eigentlich entscheidenden Sachfragen, vornehmlich der Staatsfinanzierung und dem Staatshaushalt, bis in den Herbst 1923 hinein nicht möglich war.

Auch hiervon zeichnet der Autor ein detailgetreues Bild, angefangen mit administrativ gesetzten Preisobergrenzen, über die Einführung von Schlemmersteuern und Absinth- sowie Tanzverbot bis hin zu Devisenabführungsvorgaben. Selbstverständlich hatten diese keinen bis mäßigen Erfolg. So ließen sich die Preisobergrenzen im Handel recht einfach dadurch entgehen, dass Waren in Goldmark ausgezeichnet wurden, schließlich war die Vorkriegswährung nach wie vor gesetzliches Zahlungsmittel. Tatsächlich ist es in diesem Zusammenhang bemerkenswert, mit welcher Akribie sich politische Entscheidungsträger seinerzeit Nischenthemen widmeten, während gleichzeitig die Volkswirtschaft dem Abgrund entgegentaumelte.

Als zumindest in Teilen kontraintuitiv erweisen sich auch die mutmaßlichen Gewinner und Verlierer der Währungskatastrophe. Insbesondere die vermeintlichen Sachwerte wie Aktien, Gold und Immobilien taugten nicht oder nur sehr bedingt zum Vermögenserhalt – unabhängig von späteren Umverteilungsmaßnahmen wie der Hauszinssteuer.

Wer sollte das Buch lesen?

Das Buch richtet sich an historisch interessierte Leser jedweden fachlichen Hintergrunds, welche die Ära der Hyperinflation in epischer Breite aufsaugen möchten und zudem bereit sind, den einen oder anderen liebgewonnen Mythos zu Grabe zu tragen.

So wird die deutsche Hyperinflation bis heute gerne als besonders abschreckendes Beispiel für die Gefahren einer politischen Weisungsgebundenheit von Währungsinstitutionen herangezogen. Tatsächlich war die Reichsbank aber bereits seit Mai 1922 und damit ein gutes Jahr vor dem Übergang in die hyperinflationäre Geldentwertungsphase unabhängig geworden. Dies geschah übrigens auf Druck der Alliierten, die jedoch die Ergebenheit des seinerzeitigen Reichsbankpräsidenten, eines preußischen Juristen, übersehen hatten. Dieser war vorbehaltslos bereit, weiter fleißig Schatzanweisungen des Reichs in die Bilanz zu nehmen. Auch das Ende der Hyperinflation und die Stabilisierung der Reichsmark erfolgten keineswegs über eine Währungsreform im eigentlichen Sinne und die Ablösung der Papier- durch die Rentenmark, sondern innerhalb weniger Tage über eine Bereinigung der Reichsbankbilanz und eine radikale Kostenreduktion des aufgeblähten Staatshaushalts.

Äußerst lehrreich sind zudem die aufgezeigten Mechanismen der Macht, deren Vertreter die eine frühzeitige Lösung verhinderten, offensichtlich kruden Theorien anhingen, sich in Symbolpolitik ergingen, die Bevölkerung bis tief hinein in das Privatleben gängelten und teilenteigneten sowie erst angesichts der nicht mehr zu leugnenden Notlage zu einer Bereinigung bereit waren. Gleichwohl fällt auch die Entscheidung hierzu zwiespältig aus, denn dieser voraus ging ein umfassendes Ermächtigungsgesetz, welches das Parlament temporär entmachtete und die Regierung mit einer ungeheuren, ja diktatorischen Machtfülle ausstattete.

Der Titel ist im besten Sinne allgemeinbildend und für ein breites Publikum geschrieben, geldtheoretische Tiefe können daher ökonomisch beschlagene Leser daher nicht erwarten. Selbstverständlich werden die mit der Hyperinflation einhergehenden geldtheoretischen Grundlagen erläutert, aber eben nicht in der Tiefe ausgelotet. Wer also an währungstechnischen Parametern, den Details in der Zusammensetzung und Änderung der Reichsbankbilanz oder dem Vergleich monetärer Erklärungsansätze des Inflationsphänomens Interesse hat, wird zu anderen (Fach-)Veröffentlichungen greifen müssen.

Wie lautet das Fazit?

Einmal installierte politische Institutionen sind erstaunlich zäh. Ein besonders langlebiges Beispiel dafür ist die Schaumweinsteuer, die 1902 zur Finanzierung der kaiserlichen Marine eingeführt wurde, im Gegensatz zu dieser jedoch bis heute fortbesteht. Weniger geläufig ist die Tatsache, dass die bundesweit einheitliche Steuerverwaltung, die Einkommenssteuer, Körperschaftssteuer, Umsatzsteuer und Grunderwerbssteuer sowie die Abführung der Einkommenssteuer direkt an der Quelle durch das jeweilige Unternehmen Relikte der Schulden- und Inflationsära nach dem Ersten Weltkrieg sind. Gleiches gilt für die Einkommenssteuersätze um und jenseits der 50, die zuvor als obszön hoch nicht durchsetzbar gewesen wären.

Neben den großen Geschichtsbuchereignissen ist es vor allem die Erörterung dieser Begleiterscheinungen, die das Buch so lesens- und kaufenswert machen. Das gilt nicht zuletzt für die Vermittlung vermeintlich unnützen Wissens. Wer weiß denn schon, dass der Reichskanzler Gustav Stresemann, unter dessen Ägide die Hyperinflation gebrochen wurde, mit einer Doktorarbeit zur Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäfts promovierte?

PS: Der Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg werden wir uns sowohl aus deutscher als auch aus österreichisch-ungarischer Perspektive in der November-Folge der Geldgeschichte(n) widmen. Die Folge erscheint am letzten Freitag im Monat..

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    2 Antworten auf „Rezension – Die Inflation von 1923: Wie es zur größten deutschen Geldkatastrophe kam“

    1. Danke Luis für die ausführliche Buchbesprechung.
      Jetzt freue ich mich noch viel mehr auf die Lektüre. Ich folge dem Autor schon länger auf Twitter, dort gab es immer schöne kurze Auszüge zu dem Thema, die Neugierig auf das Gesamtwerk machen. Dank der lokalen Stadtbibliothek liegt das Buch auch schon auf dem Nachttisch, wird aber noch vom neusten Rai Dalio Werk (auch interessant) blockiert

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